1. Der antike Weise
Seelische Ausgeglichenheit, Bedürfnislosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber gleichgültigen Dingen: Auf diese Eigenschaften des Weisen gründen sich seine Seelenruhe und das Fehlen von Beunruhigung.
Für die Stoiker kann der Weise die Wirksamkeit im Handeln mit der inneren Gelassenheit vereinen, weil er in der Ungewissheit des Erfolgs stets so handelt, dass er dem Schicksal zustimmt und darauf bedacht ist, eine reine Absicht zu bewahren.
Die Gestalt des Weisen erscheint also als eine Art Fels unbezwingbarer und unüberwindlicher Freiheit, die der folgende berühmte Text von Horaz gut beschreibt:
"Dem rechten Mann, der fest am Entschlusse hält, macht nicht die Volkswut, die ihn zum Schlechten drängt, nicht eines Zwingherrn drohend Antlitz wanken den stetigen Mut, der Südwind nicht, der wilde Herr der ruhlosen Hadria, nicht Jovis blitzeschleudernder starker Arm, selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt, treffen die Trümmer noch einen Helden."
(Si fractus illabitur orbis impavidum ferient ruinae)
Es gibt einen bemerkenswerten Text von Seneca, in dem die Betrachtung der Welt und die Betrachtung des Weisen miteinander verbunden werden: (P. Hadot 266)
"Mir jedenfalls pflegt viel Zeit wegzunehmen die bloße Betrachtung der Weisheit: nicht anders betrachte ich sie voll Staunen als bisweilen das All selbst, das ich oft gleichsam zum ersten Mal sehe." Seneca, Ep. mor. 64,5 f.
Mihi certe multum aufferre temporis solet contemplatio ipsa sapientiae; non aliter illam intueor obstupefactus quam ipsum interim mundum, quem saepe tamquam spectator novus video.
Der Gedanke liegt nahe, dass Seneca die Naivität des Blickes wiederzufinden übt, wenn er die Welt betrachtetet, wenn wir hier nicht den flüchtigen Ausdruck einer spontanen Erfahrung von "wilder (d. h. naiver) Mystik" haben ( nach "Michel Hulin", zitiert bei Hadot).
Um die Weisheit zu betrachten, bedarf es, genauso wie um die Welt zu betrachten, eines neuen Blickes. Hier taucht ein neuer Aspekt in der Beziehung des Philosophen zur Zeit auf. Es geht nicht nur darum, jeden Moment der Zeit wahrzunehmen und zu leben, als ob es der letzte wäre, man muss ihn wahrnehmen, als ob er der erste wäre, in der ganzen erstaunlichen Fremdartigkeit seines plötzlichen Auftauchens.
Pierre Hadot (Wege zur Weisheit, Frankfurt a.M. 1999) schreibt (S. 269 f.): "Trotz meiner Zurückhaltung gegen den Gebrauch komparatistischer Studien in der Philosophie möchte ich dieses Kapitel nicht beenden, ohne zu betonen, wie nah mir die vom Buddhismus inspirierte Beschreibung, die Michel Hulin von den existentiellen Wurzeln der mystischen Erfahrung gegeben hat, zu den charakteristischen Zügen des Ideals des antiken Weisen erschien; so sehr hatten mich die Ähnlichkeiten zwischen den beiden, geistigen Suchbewegungen verblüfft. (...) Es ist gerade die Idee vom Befreitsein von der Bürde des "Geschehens und des Daseins" , die in Michel Hulins Beschreibung meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mir eine bestimmte Analogie zur geistigen Erfahrung darzustellen schien, welche zur Konzeption des antiken Weisen geführt hat."
Aussagen über den antiken Weisen:
Der Weise ist immer mit sich identisch - seelisch vollkommen ausgeglichen - frei von Affekten - frei von (störenden) Bedürfnissen - durch nichts zu erschüttern - findet das Glück in sich selber - ist immer glücklich, sogar unter der Folter - alles außer dem moralisch Guten ist ihm "gleichgültig" - er ist unfehlbar - er hat den vollkommen Gebrauch der Vernunft - er ist der beste Staatsmann, Dichter, König ... - er bejaht das gesamte Universum -
Wertungen gegenüber dem Bild des Weisen:
- gefühllos - unmenschlich - keine Schwächen zeigen? - ein Übermensch - ein "unmögliches" Ideal - der unbei-irrbare "Held" als Ideal? - Anzeichen von Arroganz und Zynismus?
Weise wird man durch augenblickliche Transformation, durch Verwandlung, nicht durch Entwicklung.
"Streben" nach Weisheit? Wie erreicht man die Transformation?
Weise gibt es nur selten, vielleicht alle 500 Jahre, vielleicht überhaupt nicht? - ein irreales Ideal?
Weise stehen mit den Göttern auf einer Stufe, leben wie "Götter unter den Menschen". "Götter", aber keine Menschen?
Der "Weise" ist als Ideal und Vorbild unbrauchbar. "Unerreichbare" Ideale, permanente Überforderungen sind gefährlich und krankmachend. Menschliche Entwicklung sollte ein Integrationsprozess sein: Schwächen und Stärken, Fehler und Vorzüge sollten sich zu einer harmonischen Gesamtpersönlichkeit verbinden.
Deutungen:
Der "Weise" als Grenzbegriff:
Im Begriff des Weisen wird eine ethische Konstruktion zu Ende gedacht. Herauskommt dabei ein Idealtyp, den es in der Realität nicht gibt. Der Begriff taugt allenfalls als Kriterium, als Instrument, um sittliches Verhalten zu beurteilen.
Vorteile dieser Deutung: Die Spannungen im Begriff des Weisen können verstanden werden als (typische) Eigenheiten eines Genzbegriffes.
Nachteile dieser Deutung: Der Begriff taugt nicht mehr zum Ideal, er verliert seine appellative Bedeutung.
Der Zustand der Weisheit als Ergebnis einer mystischen Erfahrung:
Der Weise ist ein Mensch, dem eine mystische Erfahrung als Schwellenerlebnis zuteil wurde, vergleichbar mit der buddhistischen Erleuchtung. Die übermenschlichen Prädikate des Weisen gelten für Menschen, die durch eine mystische Einheitserfahrung eine neue, tiefere, im letzten nicht mitteilbare Weltsicht gewonnen haben. Die Paradoxe im Bild des Weisen lösen sich erst für den auf, der diese Tiefenerfahrung gemacht hat. Diese Erfahrung ist transpersonal und transrational. Die Paradoxe resultieren aus der verengten Sicht der Ichwelt und des rationalen Denkens. Und dies ist die Sicht der "normalen", des "unerfahrenen" Menschen.
Vorteile dieser Deutung: Die Widersprüche im Bild des Weisen lösen sich auf.
Nachteile dieser Deutung: Für den "normalen" Menschen bleibt der Weise immer noch ein "fernes" Ideal.