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Inhalt dieser Seite:
1. Sokrates und die Kunst, Fragen zu stellen
2. Mit Sokrates auf spiritueller Suche
 
 
Alle Philosophen, die sich heute bemühen, dem wirklichen Leben reflexiv näher zu kommen, gehen in irgendeiner Form auf Sokrates zurück, dem Meister des spontanen Philosophierens. Ihm fühlen sich die "praktischen" Philosophen verpflichtet, wenn sie auf die "Marktplätze" des öffentlichen Lebens gehen und die "Passanten" in Gespräche ver-wickeln. Im Folgenden wollen wir uns  zeigen lassen, wie inspirierend auch heute noch das "Phänomen Sokrates" sein kann.
 
1. Sokrates und die Kunst, Fragen zu stellen
 
Philosophieren heißt für Kay Hoffman, an deren Darstellung wir uns im Folgenden orientieren, das, was bereits als Antwort vorliegt, in Frage zu stellen. Sokrates nun ist für seine Fragen bekannt geworden, insbesondere für sein geradezu penetrantes Nachfragen.  Daran anknüpfend wurde in der philosophischen Praxis die Technik des Sokratische Dialogs entwickelt. Es ist zunächst eine Methode des "Lehrens", im Sinne eines Ler-nens aus dem Leben - Sokrates verstand sich vor allem als Lehrer.  Doch das gewöhnliche Verhältnis, in dem der Schüler fragt und der Lehrer antwortet, d.h. sein Wissen zur Verfügung stellt, ist in der Sokratischen Methode genau umgekehrt.  Der Lehrer ist der Fragende, der aufgrund der richtigen Fragestellung das Wissen aus dem Wissen herauslockt.  Sokrates selbst hat diese seine Fragetechnik als Hebammenkunst verstanden und mit dem Beruf seiner Mutter, einer Hebamme, verglichen, wobei er betonte, dass es ihm nicht darum ging, selbst Weisheit zu gebären, sondern anderen zur Geburt ihrer Ideen zu verhelfen.  Es handelt sich dabei um ein Wissen, das schon vorhanden sein muss, ein Wissen, das in allen Menschen schlummert, aber erst durch rechte Befragung nach Außen, ins Bewusstsein gebracht wird, kurz: ein implizites Wissen, das explizit gemacht wird.  Das Endergebnis aller Fragen jedoch gipfelt in der Erkenntnis, eigentlich nichts zu wissen, in dem berühmten Satz: "Ich weiß, dass ich nichts weiß."  Er fühlte, dass eine innere Stimme in ihm ihn leitete und von  allem abhielt, was unrechte Auswirkungen haben konnte.   Er nannte diese Stimme "Daimonion", das Gewissen.  Er lehrte auf den Straßen und Plätzen Athens, umgeben von einer bunten Schar seiner Schüler, zu denen auch die Söhne angesehener Familien gehörten.  Die Lehrtätigkeit bestand in einem Frage-Antwort-Spiel, wobei Sokrates mit Vorliebe auch Vorübergehende anredete und sich an alle Volksschichten wandte. 
Sokrates war kein wortgewandter Vortragender, der Reden vor einem großen Publikum hielt. Er verwickelte die Leute einzeln in Gespräche. Dabei ging er meisterlich vor. Ähnlich wie der Kommissar Colombo stellt er sich vollkommen unwissend und ahnungslos und gab vor, von seinem Gesprächspartner lernen zu wollen.  Seine Fragen wurden allmählich immer bohrender, und am Ende konfrontierte er ihn mit seinen eigenen Widersprüchen.
Sokrates liebte es, die Menschen in die Enge zu treiben und alles Unwesentliche herausfiltern, bis sich alles auf die wesentliche Aussage zuspitzte.  Das heißt, es kam das zur Einsicht, was im Verborgenen immer schon da war: das Wesen eines Menschen und seine Einsicht in das Wesentliche.  Geleitet durch die innere Stimme, findet der Mensch zu sich selbst, er wird zu dem, was er eigentlich immer gewesen ist: eine in sich selbst gegründete, unerschütterliche und autonome Persönlichkeit.  Um diese Tugend, diese Qualität der "Sittlichkeit", geht es auch im Sokratischen Dialog.
Nach Sokrates ist es nicht möglich, das Rechte zu tun, wenn man es nicht kennt.  Ebenso aber ist auch nicht möglich, das Rechte nicht zu tun, wenn man einmal erkannt hat. was das Rechte ist.
Der Sokratische Dialog als Technik der philosophischen Praxis gehört zu den Stan-dardmethoden der philosophischen Praxis. Diese Technik verfolgt zwei Strategien:
-  durch gezielte Fragen verborgenes Wissen sichtbar machen;
-  durch konsequente Befragung zur Einsicht zu führen, dass alles Wissen nur vor-läufig und unvollständig, also "Nichts" im Sinne von "nicht verlässlich" und "nicht für immer und nicht für alle gültig" ist.
 
Die Kunst daran ist, die Fragen so zu stellen, dass sie nicht demotivieren, sondern im-mer mehr Interesse daran wecken, wohin diese Fragen letztendlich führen werden.  Dies ist abhängig von der Haltung, mit der solche Fragen gestellt werden.  Wenn es aus Arroganz oder Zynismus geschieht, wird niemand auf die Fragen eingehen.  Eine bestimmt Fragemethode kann also nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Menschen solcherart bewegen, dass er in eine ekstatische Regung versetzt wird, als würde er von einer Idee oder einer göttlichen Präsenz ergriffen.
Dazu gehört, dass man bereit ist, nach Innen zu gehen, um durch eine innere Erfahrung bereichert nach Außen zurückzukehren. 
 
Der Sokratische Dialog wird am besten eingeleitet durch eine bewusste Abwendung von den "äußeren Dingen", die ablenken könnten, und einer Zuwendung "nach Innen". 
-  Was auch immer innen oder außen für Sie bedeuten mag - am besten gelangen Sie zu einer unvoreingenommenen Haltung, indem Sie einfach die Augen schließen und sich überraschen lassen.  Lassen Sie sich nun auf ein Erleben Ihrer Innenwelt ein.  Gedanken kommen und gehen, Körpergefühle verlangen nach Ihrer Aufmerksamkeit.  Vielleicht spüren Sie einen bestimmten Impuls, die Haltung zu verändern, sich in eine Richtung bewegen zu wollen, etwas zu tun.  Beobachten Sie einfach diese verschiedenen Regungen, die sich in Ihnen abspielen.  Geben Sie sich folgendes Motto: Von außen nach innen gehen, um von innen gestärkt nach außen zurückzukehren und dieses Außen anders zu erleben.
-   Stellen Sie sich vor, Sie seien wie eine Zwiebel mit vielen Schalen ausgestattet.  Es gibt eine äußere Schale, die Berührung und Austausch hat mit der Außenwelt.  Und es gibt einen innersten Bereich, der sich wie ein "Kern" anfühlt.  Konzentrieren Sie sich auf das "Kerngefühl", auf Ihr Innerstes, in dem Sie sich in Ihrem Wesen be-rührt und wesentlich angesprochen, wirklich gewollt, "auserwählt", und nicht nur zufällig geliebt, beliebig und austauschbar fühlen.  Vielleicht gibt es eine Erinnerung, die jetzt in Ihnen wach wird, oder es kommt eine Ahnung in Ihnen hoch, wie sich ein solches Gefühl anfühlen kann.  Und noch während Sie sich nicht ganz sicher sind, ob es so etwas geben kann oder darf, weiß etwas in Ihnen schon lange, dass es so ist, wie es jetzt gerade ist.  Sie machen eine "wesentliche Erfahrung", wie auch im-mer sich diese heute, jetzt gestaltet.  
 
Glaubte Sokrates an die Götter?  In der Komödie des Aristophanes "Die Wolken" tritt Sokrates als Skeptiker auf, der nicht an die Götter "glaubt" im Sinne eines Aberglaubens, der den Sinneswahrnehmungen und der Vernunft widerspricht.  Eines Tages soll er gesagt haben: "Es sind die Wolken und nicht Zeus, die den Regen hervorbringen, andernfalls, wenn es nur von Zeus abhinge, würden wir es regnen sehen, auch wenn es heiter ist."  Doch Sokrates war in dem Sinne gottgläubig, als er seiner Berufung folgte und sich am Daimonion orientierte.
 
Bei Platon in der "Verteidigung des Sokrates" erzählt Sokrates von dieser inneren Stimme: " Mir ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun soll, zugeredet aber hat sie mir nie." 
 
 
 
2. Mit Sokrates auf spiritueller Suche
 
Der Frage, wie sich Sokrates zum "Göttlichen" stellt, geht auch Wolfgang G. Esser nach. Bei Sokrates nimmt, nach Esser, die philosophisch-spirituelle Suche nach dem unbekannten Göttlichen eine eigene Wendung. Er setzt sich kritisch nicht nur von den Sophisten ab, welche diese Suche aufgegeben haben. Er findet auch gegenüber den Naturphilosophen einen neuen Weg der Suche. Deren Suchweg in der Betrachtung der Natur und im Nachdenken über die endliche Wirklichkeit der Welt lehnt er keineswegs ab.  Er bekennt sich sogar ausdrücklich dazu: Das Göttliche bewirkt, "dass das All selber mit sich selber zusammengebunden werde."
Aber der von Sokrates favorisierte Weg ist der in die eigene innere Gewissheit.  Im eigenen Selbst hört er die göttliche "Stimme", die ihm sagt, was gut und gerecht ist.  Dieser innersten "Stimme" folgt er in der bedingungslosen Suche nach der Wahrheit.
Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum wir bis in die Gegenwart das persönliche Gewissen als höchste und letzte Instanz ethischer Entscheidungen und ethischen Handelns hochschätzen und nicht dem Verdacht individueller Beliebigkeit aussetzen.  Das aber legt jedem Einzelnen eine unerlässliche Pflicht auf, und genau das will Sokrates bei seinen Gesprächspartnern erreichen.  Sie sollen erkennen: Gewissenhaftes Urteilen und Handeln ist der individuellen Beliebigkeit und auch dem Irrtum in dem Maße entzogen, wie jemand Sorge für sein Gewissen trägt, wie jemand sein Gewissen verantwortet.  Sonst wäre die Freiheit des Gewissens doch noch der Gefahr der Beliebigkeit ausgesetzt.
Gleiches gilt für die Wahrheitsfindung. Auch sie ist mit Arbeit verbunden. Wir wissen die absolute Wahrheit nicht, können uns ihr immer nur annähern.  Das erfordert Toleranz gegenüber der Wahrheitsannäherung der anderen und ermöglicht das Gespräch mit ihnen zu gemeinsamer, weiterführender Annäherung an die Wahrheit.
 
So käme es also aus Sokrates' Sicht bei der Suche nach dem wahrhaft Göttlichen darauf an, sich nicht auf die von anderen vorgegebene Wahrheit zu verlassen, sondern sich selbst auf die Suche, auf eine spirituelle Suche zu begeben.  Sie besteht darin, sich von den uns unbewussten Täuschungen und Illusionen über die Wahrheit eines guten und glücklichen Lebens zu befreien, auch von den vergötzten Idolen, die wir gutgläubig verehren, weil sie den Anschein von Wissen, Sinn und Sicherheit vermitteln.  Vor den selbst ernannten Autoritäten sollten wir uns ebenfalls hüten, die vorgeben, den Sinn unseres individuellen Lebens zu kennen. In Wahrheit verhärten sie die Seele und lassen sie erstarren. Jenseits dieser Illusionen  erwartet den Suchenden, der auf seine innere, leise, immer wieder überhörte Stimme hört, das Vertrauen in sich selbst, das einen tieferen Sinngrund hat als alle ihm von außen aufgedrängten Sinnfüller und Glücksbringer.
 
Befreit könnte er dann aufatmen und mit Sokrates ausrufen: "Sieh nur, wie viele Dinge die Athener zum Leben brauchen! ... Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf." Gerade diese Einsicht ist es, die Anstoß zu einer heute und morgen immer notwendiger werdenden Spiritualität sein kann, zu einer inneren Einstellung und Haltung, die Wirklichkeit auf eine neue, ungewohnte Weise wahrzunehmen und mit ihr um-zugehen.  Diese Spiritualität kennzeichnet also:
-        Eine Existenzweise des Seins: viel zu sein, statt viel zu haben. Für Erich Fromm bildet dies die seelische Grundlage einer neuen Gesellschaft.  Weil der pathologisch übersteigerte Konsum Menschen krank macht, gilt es, sich von dem Zwang unseres Wirtschafts- und Produktionssystems zu befreien, das uns permanent, von morgens bis abends einzureden versucht, wir müssten dies und jenes haben, um etwas zu sein, um glücklich zu sein, lebensfroh zu sein, wissend zu sein, eine Persönlichkeit zu sein und vieles mehr.
-        Schärfer als noch Sokrates können wir heute den Abstand wahrnehmen zwischen unserem Wissen, was gut ist, und unserem Handeln.  Bei anderen beobachten wir das leichter, an uns selbst fällt uns das schwerer.  Aber genau darauf kommt es Sokrates bei seinen Gesprächspartnern an: sich selbst wahrnehmen zu lernen, statt an sich selbst vorbeizusehen, sich in der Selbst-Aisthesis (d. i. Selbst-Wahrnehmung) zu üben, um vom Wissen über und von sich selbst zum gewissenhaften Handeln zu gelangen.  Viele Menschen "wissen"  heute um die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, wenn unsere Art zu leben und zu wirtschaften sich nicht ändert.  Solches "Wissen" allein ändert nicht unser gewohntes Handeln im Umgang mit Luft, Wasser, Boden, Energie und den Produkten des kapitalistischen Wirtschaftssystems.  Wir laufen lieber mit einem schlechten Gewissen herum, als unseren Lebensstil zu verändern.  Wir sind gespalten zwischen Wissen und Handeln. 
-        Zu jeder glaubwürdigen Spiritualität gehören Akte der Befreiung aus seelischen Verkrustungen, altgewordenen Gewohnheiten, die wir nur noch mitschleppen, unter denen unsere Seele eingeschlafen ist und nun begraben liegt. Jeder kleinere oder größere Befreiungsakt, der immer auch Verzicht bedeutet, gibt uns ein neues Gefühl wiedergewonnener Freiheit, Freude an neuer Lebensqualität und die Schubkraft zu neuem Handeln.
-        Damit das Gewissen wach bleibt, brauchen wir Zeiten der Stille und des Schweigens, in denen wir uns von Außeneinflüssen abschirmen.  Hier können wir seinen Ruf aus der seelischen Tiefe vernehmen, der alles vordergründige Denken hinterfragt, zum Schweigen bringt und neue Klarheit für gerechtes Handeln eröffnet.  Meditative Versenkung in sich selbst scheint zu Sokrates' Gepflogenheiten gehört zu haben: "Es war ihm etwas eingefallen, und er stand darüber nachsinnend von morgens an auf einer Stelle ... Nun wurde es Mittag ... Und er blieb stehen, bis es Morgen ward und die Sonne aufging, dann verrichtete er noch sein Gebet an die Sonne und ging fort." 
 
Wie verschieden die sokratischen Autoren das Bild des Sokrates im Einzelnen auch zeichnen, in einer Hinsicht sind sie sich einig: Als er 399 vor Gericht steht und zum Tod verurteilt wird, strahlt er eine Heiterkeit und Gelassenheit aus, die von einer unerschütterlichen inneren Kraft zeugt.  Woher wuchs ihm diese Kraft zu? Kraft und innere Sicherheit gewinnt in der Vergewisserung der inneren "Gottheit". Denn in allem, was er tut, ob er vor schlichten Alltagsentscheidungen oder Entscheidungen zwischen Gut und Böse steht, hört er immer nur auf seine innere "Stimme", die er eine göttliche nennt: Daimonion. Mit ihr ist er mit dem Göttlichen verbunden, was ihm kein Bereich außerhalb seiner selbst ist, sondern als ein innerseelischer Bereich verstanden werden muss.  Dieser innere Gott ist der tragende Grund seiner Gewissheit, die er nicht beweisen kann ("lch weiß, dass ich nichts weiß"), deren unbedingter Weisung er aber horchend, gehorchend unbedingt folgen zu müssen glaubt, um gerecht handeln und ein guter Mensch sein zu können.  Dieser innere Gott ist auch der tragende Grund seiner Heiterkeit und Gelassenheit bis in den Tod.  Todesurteil und Tod braucht er nicht zu fürchten, weil sie nur die Konsequenz sind, der unbedingten Weisung des inneren Gottes gefolgt zu sein.  Wenn dies auch den Tod mit einschließt, so vertraut er, ist auch dieser gutzuheißen, um vor sich selbst und dem inneren Gott ohne Fluchtgedanken bis in den Tod authentisch zu bleiben.
 
Dass er diese innere göttliche "Stimme" nicht als seine individuelle Sonderbegabung betrachtete, geht aus seinem unermüdlichen Bestreben hervor, jeden Einzelnen aufzuwecken, "für die Seele zu sorgen, damit sie aufs Beste gedeihe", jeden aufzuklären und ihm "ins Gewissen zu reden", damit er sich "um sittliches Urteil, um Wahrheit und Besserung seiner Seele" kümmere. 
 
 



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